Zahnmedizin aktuell

Resistente Erreger sind das nächste grosse ­Gesundheitsproblem

Während der Pandemie wurden vermehrt Antibiotika verschrieben, weil Zahnarzt­praxen schliessen mussten. Dies ist problematisch, weil Antibiotikaresistenzen weltweit zunehmen. Auch Schweizer Ärzte sind aufgerufen, Antibiotika sparsam und sachgemäss einzusetzen.

Im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie wurden in England rund 22 Prozent mehr Dentalantibiotika verschrieben als im Jahr zuvor. Dies zeigen Daten, die die britische Regierung Ende 2021 veröffentlicht hatte. Der höchste Anstieg wurde von März bis Juni 2020 verzeichnet, als die Zahnarztpraxen in Grossbritannien geschlossen blieben. Zahnärztinnen und Zahnärzte waren angewiesen, die Patientinnen und Patienten am Telefon zu beraten und ihnen gegebenenfalls Schmerzmittel und Antibiotika zu verschreiben. Noch im Frühling 2021 gaben vier Fünftel der Befragten in England an, es sei schwierig, Zahnprobleme zeitnah behandeln zu lassen. In vielen Fällen wurden deshalb Medikamente verschrieben, obwohl eine zahnärztliche Behandlung die schnellere und sicherere Option gewesen wäre.

Ob auch in der Schweiz während der Pandemie mehr Antibiotika verschrieben wurden, steht noch nicht fest. Die Verbrauchsdaten von Antibiotika für Spitäler und für den ambulanten Bereich bis einschliesslich 2020 zeigen jedoch keinen Anstieg.

Häufige Krankheiten sind schwieriger zu behandeln

Eigentlich wäre ein sparsamer Einsatz von Antibiotika angebracht. Krankheiten wie bakterielle Lungenentzündung, postoperative Infektionen, bestimmte Krebsarten, Tuberkulose oder Malaria sind aufgrund von Arzneimittelresistenzen immer schwieriger zu behandeln. Gemäss einer Studie der Bill & Melinda Gates Foundation starben 2019 weltweit schätzungsweise 1,27 Millionen Menschen aufgrund einer Antibiotikaresistenz. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet sogar damit, dass antimikrobielle Resistenzen im Jahr 2050 die häufigste Todesursache sein werden.

Selbst wenn eine Infektion mit resistenten Erregern nicht zum Tod führt, erhöht sie doch in jedem Fall die Kosten. Denn die Betroffenen bleiben länger im Spital, und sie benötigen mehrere, manchmal auch teurere Medikamente. Diese können wiederum Nebenwirkungen verursachen und erneut die Morbidität und die Mortalität beeinflussen.

Jährlich 300 Todesfälle in der Schweiz

In der Schweiz werden Todesfälle aufgrund resistenter Erreger nicht systematisch erfasst. «Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass jährlich ungefähr 300 Todesfälle darauf zurückzuführen sind», sagt Katrin Holenstein, Sprecherin des Bundesamts für Gesundheit. «Der Antibiotikaverbrauch in der Schweiz ist im internationalen Vergleich tief, insbesondere im ambulanten Bereich, und er ist in den vergangenen Jahren gesunken. Die Resistenzraten für viele wichtige Erreger haben sich seit 2015 stabilisiert, nachdem sie zuvor gestiegen waren.» Es gibt jedoch regionale Unterschiede. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz liegt der Antibiotikaverbrauch pro Person über dem Durchschnitt, in der Deutschschweiz darunter.

Trotz diesem insgesamt positiven Bild gibt es Verbesserungspotenzial. Im BAG-Bulletin von Anfang Februar 2022 werden Ärztinnen und Ärzte aufgerufen, Antibiotika sparsam und sachgemäss einzusetzen. Insbesondere Atemwegsinfektionen bei Kindern würden allzu häufig mit Antibiotika behandelt, die ein problematisches Resistenzprofil haben. Und Patienten aller Altersklassen wird bei Harnwegsinfekten und Bronchitis häufig ein Antibiotikum verschrieben, obwohl die klinische Evidenz dagegenspricht.

Die Zeit drängt

Im Jahr 2015 hat der Bundesrat eine Strategie zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen (StAR) verabschiedet. Deren Massnahmen umfassen nebst der Überwachung und dem sachgemässen Einsatz von Antibiotika auch die Prävention von Resistenzen, Forschung oder die Information der Öffentlichkeit. «Seit Beginn der Implementierung von StAR wurden verschiedene Meilensteine erreicht, zahlreiche Massnahmen sind in Umsetzung», sagt Katrin Holenstein. Für den Humanbereich wurden beispielsweise nationale Behandlungsrichtlinien erarbeitet, unter anderem für die Zahnmedizin (siehe Kasten). Zusätzliche Massnahmen zum längerfristigen Erhalt der Wirksamkeit von Antibiotika werden geprüft.

Weil weltweit immer mehr Antibiotikaresistenzen auftreten, müsse man aber davon ausgehen, dass sich die Wirksamkeit verfügbarer Antibiotika auch in der Schweiz verringern werde, erklärt Katrin Holenstein. Aus diesem Grund unterstützt die Schweiz internationale Organisationen, die die Entwicklung neuer Antibiotika koordinieren und vorantreiben. Auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) unterstützt in Ländern des globalen Südens Projekte zur Lösung des Problems.

Die Situation ist akut: Gemäss der WHO wurden im Jahr 2020 mehr als drei Millionen Infektionsfälle mit resistenten Keimen gemeldet – so viele wie noch nie. Häufig vorkommende Krankenhauserreger zeigen besonders oft ein hohes Mass an Resistenz gegen Antibiotika der letzten Wahl.

Neue Antibiotika lohnen sich nicht

Ein weiterer Lösungsansatz ist die Entwicklung neuer Antibiotika. Das Problem ist: Um die Resistenzbildung so lange wie möglich zu verzögern, werden neu zugelassene Antibiotika nur als Reservemedikament eingesetzt. Die Hersteller machen daher nur sehr geringen Umsatz, und sie können ihre Forschungs- und Entwicklungskosten nicht kompensieren. Dennoch arbeiten Pharmaunternehmen wie MSD, Roche, Janssen oder Pfizer an der Forschung und Entwicklung von Antibiotika.

Manche Staaten setzen Anreize für die Pharmaunternehmen. Samuel Lanz von Interpharma, dem Verband der forschenden Pharmaindustrie Schweiz, zählt auf: «England plant, ab Frühjahr 2022 jährliche garantierte Zahlungen an die Hersteller für zwei neue Antibiotika einzuführen, unabhängig von den Verkäufen. Deutschland hat das Bewertungsverfahren so angepasst, dass höhere Preise im Einklang mit dem Nutzen möglich sind. Schweden hat bereits im Juli 2020 jährlich garantierte Zahlungen im Rahmen von Pilotprojekten mit Herstellern vereinbart.»

Pharmabranche fordert Massnahmen

Auch in der Schweiz wären solche Massnahmen denkbar, findet Samuel Lanz: «Erstens sollte die Schweiz neue Marktanreize für die Einführung und Vergütung neuer Antibiotika entwickeln. Zweitens müssen wir bei der Preisfestsetzung von neuen Antibiotika auch den gesellschaftlichen Nutzen berücksichtigen: Wirksame Reserveantibiotika sind eine Versicherung gegen Gesundheitskrisen durch multiresistente Keime. Bei der Preisfestsetzung sollte deshalb nicht nur der Wert für Patientinnen und Patienten, sondern auch der gesellschaftliche Wert berücksichtigt werden», fordert der Interpharma-Sprecher.

Auch die Branche selbst ist aktiv: Im Juli 2020 haben mehr als 20 grosse Pharmaunternehmen fast eine Milliarde US-Dollar in einen Fonds investiert. Ziel ist es, innerhalb von zehn Jahren bis zu vier neue Antibiotika gegen die resistentesten Bakterien zur Verfügung zu haben.

Zahnärztinnen und Zahnärzte sind zum Handeln aufgerufen

Die Präsidentin des Weltverbands der Zahnärzte FDI, Prof. Ihsane Ben Yahya aus Marokko, ruft auch die Zahnärztinnen und Zahnärzte zum Handeln auf: «Wir müssen klar Stellung beziehen und uns verpflichten, Massnahmen gegen Antibiotikaresistenzen zu ergreifen. Und wir müssen der Öffentlichkeit klarmachen, worum es bei einem angemessenen Einsatz von Antibiotika in der Zahnmedizin geht und welche Wirkung diese auf die Patienten haben.»

Die Antibiotikarichtlinien des Bundes für die Zahnmedizin sind aufgeschaltet unter https://ssi.guidelines.ch/index/178

Die SSO und ihre Fach­gesellschaften haben ­zudem eigene Leitlinien ­publiziert. Sie sind auf der Website aufgeschaltet: www.swissdentaljournal.org

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