Yvonne Gilli, bevor Sie FMH-Präsidentin wurden, sassen Sie für die Grüne Partei im Nationalrat. Was ist schwieriger: die Arbeit als Parlamentarierin oder die Führung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte?

Jede der beiden Rollen hat ihre jeweiligen Herausforderungen. Als FMH-Präsidentin führe ich das Generalsekretariat und den FMH-Zentralvorstand. Anders in der Legislativpolitik, dort war ich eine Volksvertreterin. Geschenkt wird einem der Platz an beiden Orten nicht. Es gibt aber einen grossen Unterschied, den ich als FMH-Präsidentin sehr schätze: Ich kann mich auf die Gesundheitspolitik fokussieren. Als Parlamentarierin arbeitete ich in einem breiten Themenfeld. Man hat zwar einen Schwerpunkt – meiner war die Gesundheitspolitik –, daneben war ich auch in der Bildungskommission sowie in der Finanzkommission und dort zuständig für den Verkehr. Um sich in die politischen Geschäfte einarbeiten zu können, wäre jedoch eine gewisse Tiefe wichtig. Als Vertreterin der Ärzteschaft stehe ich nun auf der anderen Seite. Und ich merke, dass die fehlende Tiefe eine Kommunikation auf Augenhöhe erschwert.

Sollten die Berufsverbände in der Schweizer Politik eine grössere Rolle spielen als dies jetzt der Fall ist?

Auf jeden Fall. Wir haben ein Milizparlament. Das ist finanziell zwar günstig, es bedeutet aber auch, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sich keine unabhängigen Expertisen leisten können. Sie sind auf die Informationen von Interessenvertretern und Standesorganisationen angewiesen.

Haben Sie den Eindruck, die Standesorganisationen werden auch gehört?

Gegenseitiges Gehörtwerden ist eine Frage der Kultur. Und diese Kultur erodiert zunehmend in unserer Gesellschaft. Polarisierung und Abgrenzung nehmen zu. So werde ich beispielsweise oft nur noch als Interessenvertreterin wahrgenommen. Dies, obwohl wir Rahmenbedingungen finden müssen, die für verschiedene Berufe funktionieren. Man kommt weiter, wenn man von einem gemeinsamen Verständnis ausgeht.

Welche politischen Ziele haben Sie sich als FMH-Präsidentin gesetzt?

Das sind vor allem die beiden Finanzierungsreformen: die Einführung des ­neuen ambulanten Tarifs TARDOC und die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS). Im aktuellen System sind die tendenziell teureren stationären Behandlungen für die Versicherer vorteilhafter, weil die Kantone mindestens 55 Prozent der Kosten übernehmen. Die ambulanten Leistungen hingegen werden nur über die Krankenkassenprämien finanziert. Das schafft keine Anreize, chronisch Kranke so zu behandeln, dass sie möglichst stabil leben können, und verursacht deshalb Mehrkosten in der Gesundheitsversorgung.

Die FMH beschäftigt sich seit Kurzem vermehrt mit Nachhaltigkeit und Umweltschutz in der Medizin. War das auch ein persönliches Anliege der früheren grünen Politikerin?

Das Thema wurde ursprünglich von der SWIMSA, dem Verband der Medizinstudierenden, eingebracht. Der Verband der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) hat es aufgegriffen und mit so grossem Engagement vorgetragen, dass es in der Ärztekammer mehrheitsfähig war. Planetary Health ist ein wichtiges Anliegen, und die Gesundheitsversorgung kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Im Fokus unserer Tätigkeit bleiben aber die standespolitischen Kernanliegen: gute Rahmenbedingungen für künftige Ärztinnen und Ärzte schaffen, und die Qualität der medizinischen Leistungen sichern. Die FMH bekämpft die Kostendämpfungspakete im Gesundheitswesen, die der Bundesrat vorgeschlagen hat.

Warum soll eine Gesundheitsfachperson diese Vorlagen ablehnen, wenn dadurch Kosten eingespart werden können?

Diese sogenannten Kostendämpfungspakete beruhen auf einem Expertenbericht, den Bundesrat Alain Berset vor einigen Jahren erstellen liess. Sie sollen die Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitsversorgung stärken. Unter anderem sollen die Tarifpartner Zielvorgaben für die Gesundheitskosten festlegen. Das ist ein antizipierendes Budget, man könnte es auch Globalbudget nennen. Eine mögliche Konsequenz wäre, dass Leistungen, die das festgelegte Budget überschreiten, schlechter entschädigt werden. Das steht aber in direktem Widerspruch zum Krankenversicherungsgesetz, zu den Verfassungszielen und zum Versicherungsprinzip. Am stärksten betroffen wären die Patientinnen und Patienten, die die teuersten Leistungen beanspruchen müssen. In der somatischen Medizin sind das chronisch Kranke. Deutschland hat seit einem Jahrzehnt Erfahrung mit diesem System. Seither müssen die Patientinnen und Patienten mit langen Wartezeiten rechnen – die Qualität der Versorgung hat sich also verschlechtert. Auch das Ziel der Kostendämpfung wurde nicht erreicht: Die Deutschen geben heute im Schnitt 16 Prozent ihres Einkommens für die Grundversicherung aus, die Schweizerinnen und Schweizer nur 7 Prozent. Aus­ser­dem gibt es noch einen tarifpartnerschaftlichen Aspekt. Versicherer wollen eine günstige Versorgung und niedrige Prämien. Wir Leistungserbringer möchten eine qualitativ hochwertige Versorgung, die aber teuer sein kann. Wenn von aussen in diese Verhandlungen eingegriffen wird, schwächt man die Tarifpartner in ihrer Kompetenz.

Man hört, das Vertrauen zwischen den Tarifpartnern sei zerstört. Ist eine Tarifpartnerschaft künftig überhaupt noch möglich?

Ja, sie ist möglich. Das zeigt beispiels­weise der Wille zur Gründung einer nationalen ambulanten Tariforganisation für ärztliche Leistungen, die kurz bevorsteht. In dieser Organisation sollen die ambulanten Tarife – sowohl pauschalisierbare Leistungen als auch Einzelleistungen – gepflegt und weiterentwickelt werden. Es ist nicht einfach, in den Tarifierungsfragen einen Konsens zu finden. Aber es lohnt sich, kompromissbereit und professionell zu bleiben. Ein Zerwürfnis zwischen den Tarifpartnern weckt Besorgnis bei der Bevölkerung, denn letztlich sind wir alle auf medizinische Leistungen angewiesen.

Welche politischen Reformen würden das Gesundheitswesen tatsächlich verbessern?

Die bereits erwähnten Finanzierungsreformen: der neue ambulante Tarif ­TARDOC, zusammen mit der Entwicklung von ambulanten Pauschalen in der gemeinsamen Tariforganisation, und die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Weiter wünsche ich mir von der Politik, dass die Interprofessionalität angemessen entschädigt wird, sodass sie wirklich gelebt werden kann. Wir brauchen die interprofessionelle Zusammenarbeit mit neuen Berufsbildern wie Physician Assistant oder Advanced Practice Nurse, um die Auswirkungen der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels abzufedern. Dieses Anliegen könnte man in die Tarifreform ­TARDOC einbeziehen.

Stichwort Fachkräftemangel: Sie selbst ­hatten die Ausbildung zur Pflegefachfrau ­gemacht, bevor Sie Medizin studierten. Finden Sie, es fliessen zu wenig Ressourcen in die Pflege?

Die Ärzteschaft hat sowohl die Pflege­initiative unterstützt als auch eine gemeinsame Berufsentwicklung. Problematisch finde ich, dass jetzt in der laufenden Gesetzgebung von „geteilter Entscheidungskompetenz » die Rede ist. Ich bin der Meinung, Verantwortungen müssen klar geregelt sein – entweder liegt die Kompetenz bei der Ärzteschaft oder bei der Pflege. Unklare Verantwortlichkeiten können die Versorgung der Patientinnen und Patienten beeinträchtigen. Uns ist es aber wichtig, die verschiedenen Gesundheitsfachleute nicht gegeneinander aufzubringen. Denn wir erbringen eine gemeinsame Dienstleistung und haben letztlich ein gemeinsames Kernthema: die qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung.

Wie steht die FMH dazu, dass Leistungserbringer wie die Psychologinnen und Psychologen eigenständig zulasten der Sozialversicherungen abrechnen können?

Wir werden sehen, wie sich diese Zusammenarbeit entwickelt. Es braucht ein sorgfältiges Monitoring, um die Kostenkontrolle zu gewährleisten und die Qualität zu sichern. Diesbezüglich sollten für alle Leistungserbringer dieselben Rahmenbedingungen gelten. Das heisst, dass es ein Monitoring gibt und dass man qualitative Aussagen dazu machen kann. Und die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen müssen klar abgegrenzt werden. Die FMH befürchtet, dass komplexe Patientenfälle weiterhin auf der ärztlichen Seite bleiben und der Versorgungsengpass dort bestehen bleibt.

Die FMH verteidigt ihre Interessen in harten Verhandlungen. Welche Ihrer politischen Gegner schätzen Sie?

Ich schätze eigentlich jeden Gegner. Denn mit jeder Widerrede kommt ein neues Argument ins Spiel, das aus meiner Perspektive bisher nicht unbedingt im Fokus stand. Zum Beispiel die Versicherer in der Tarifpartnerschaft: Sie zwingen uns, wirtschaftlich zu arbeiten und die Qualität unserer Leistungen mit Zahlen zu belegen. Wenn wir diese Fragen auf Augenhöhe verhandeln, können wir Verantwortung für unsere Arbeit übernehmen und der Staat muss nicht subsidiär eingreifen.