Tobias Wolf, was genau bedeutet der Begriff «Dentrepreneur»?
Seit ein paar Jahren führe ich an der Universit.t St. Gallen betriebswirtschaftliche Lehrgänge für Ärztinnen und Zahnärzte durch. Die Lehrgänge werden in Zusammenarbeit mit der SSO organisiert. Mehr aus Jux ist innerhalb eines solchen Seminars der Ausdruck. Dentrepreneur. entstanden. Ich finde jedoch, er bringt es ziemlich gut auf den Punkt: In der Zahnarztpraxis geht es in erster Linie natürlich um die zahnmedizinische Behandlung und die Patienten. Doch eine Praxis ist ein Unternehmen, und dort braucht es unternehmerisch denkende und handelnde Personen. Auch für die zahnärztliche Praxis gilt: Um erfolgreich zu sein, muss sie sich positionieren – mit innovativen Ideen, gutem Marketing und optimierten Abläufen.
Sollte dieses Wissen nicht schon in der Ausbildung vermittelt werden?
Die Universitäten haben erkannt, dass neben dem medizinischen Fachwissen auch Themen wie Betriebswirtschaftslehre, Digitalisierung, Umgang mit Patientenbedürfnissen oder Mitarbeitendenführung zentral sind. Auch, dass mit anderen Disziplinen zusammengearbeitet werden muss. Es existieren nun bereits erste Studiengänge (z. B. Joint Medical Master an der HSG) und einzelne Pilotprojekte, aber bis die Entwicklung institutionalisiert ist, wird es noch etwas dauern.
Es möchte aber nicht jeder Zahnarzt, jede Zahnärztin eine eigene Praxis übernehmen.
Hier hat ganz klar ein Wertewechsel stattgefunden. Gerade die jüngere Generation gewichtet Dinge wie Work- Life-Balance oder New Work stärker als die Karriere. Sie – Frauen wie Männer – wollen immer häufiger Teilzeit arbeiten, und das lässt sich in Gruppenpraxen besser umsetzen als in der traditionellen Einzelpraxis. Auch räumliche Flexibilit.t ist ihnen wichtiger als lokale Verankerung. Mittlerweile gibt es grosse Praxiszusammenschlüsse mit Standorten in verschiedenen Regionen. Aber auch für Zahnärztinnen in Anstellung ist unternehmerisches Denken relevant. Unternehmertum ist nicht einfach Chefsache, sondern umfasst das ganze Praxisteam.
Hat die Einzelpraxis auf dem Land ausgedient?
Die Zahl der Einzelpraxen geht zurück, aber es wird sie weiterhin geben. Wer sich für eine Einzelpraxis entscheidet, kann durchaus Erfolg haben; wenn er sich richtig positioniert und seine Stärken gegen aussen trägt. Die Vorzüge einer Einzelpraxis sind die familiäre und persönliche Atmosphäre und die vertraute Umgebung. Es gibt immer noch Patienten, die genau das schätzen. Anderen ist es wichtiger, schnell einen Termin zu bekommen und dies möglichst zu Randzeiten, nach der Arbeit. Es hat für beide Bedürfnisse Platz. Tendenziell werden die Praxen aber schon grösser.
Der Anspruch geht aber auch in die Richtung, dass alles schneller, günstiger und dabei mindestens von gleicher Qualität sein muss. Können Zahnarztpraxen diesem Bedürfnis gerecht werden?
Ja, das geht, und zwar wegen des technischen Fortschritts. Ich unterscheide gerne zwischen reiner Digitalisierung und digitaler Transformation. Bei der reinen Digitalisierung werden spezifische Arbeitsprozesse entlang des ganzen Patientenpfades digitalisiert. Zum Beispiel Anmeldung, Triage, Terminvereinbarung oder Nachbetreuung. Vieles wird automatisiert, geht dadurch schneller und braucht für gewisse Prozessschritte weniger Personal, wird also langfristig auch günstiger. So kann sich das Personal vollumfänglich auf die menschliche Komponente, die Patientenbedürfnisse und die fachlich anspruchsvollen Behandlungsschritte konzentrieren. Und die Ergebnisse sind durch die digitalisierten Prozesse in der Regel besser, weil zuverlässiger.
Hat die digitale Transformation in der Branche schon stattgefunden?
Teilweise. Digitale Transformation bedeutet die grundlegende Veränderung ganzer Branchen durch Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle. Beispiele aus anderen Bereichen sind etwa Spotify, Uber oder auch Airbnb. Im Gesundheitswesen dauert die digitale Transformation länger und ist komplexer als in anderen Branchen. Die digitale Transformation wird aber einen riesigen Impact auf die Branche und die einzelnen Praxen haben. Ich bringe hier gerne die Allegorie «lange Lunte, lauter Knall». Dieser Knall wird richtig laut sein.
Haben Sie konkrete Ideen, was sich in der nahen Zukunft verändern wird?
Es ist nicht nur allein die Digitalisierung, sondern es sind mehrere unterschiedliche Trends, die zusammenspielen und die Zukunft verändern werden. Allem voran die veränderten Patientenbedürfnisse oder auch veränderte Bedürfnisse des Personals und der Ärzte selbst. Es wird künftig immer mehr investorengetriebene Praxen geben. Diese Praxen sind hochgradig unternehmerisch aufgestellt und verfügen über viel Kapital und interdisziplin.res Know-how. Auch globale Tech-Player wie Google, Amazon oder Meta investieren enorme Beträge ins Gesundheitswesen. Und es gibt viele kleine Start-ups, die wie Pilze aus dem Boden schiessen und ebenfalls die Veränderung des Gesundheitswesens mitgestalten wollen. Alle diese Trends werden unser Gesundheitswesen nachhaltig verändern. Umso wichtiger ist es, dass innerhalb der Ausbildung solche Veränderungen thematisiert werden und teilweise auch neue Jobmodelle entstehen. Nicht nur für Zahnärzte, sondern für alle medizinischen Angestellten. Beispielsweise bin ich überzeugt, dass es in den nächsten Jahren Praxismitarbeitende benötigt, welche die Datenauswertung über die ganze Bandbreite beherrschen. Die Informationen, die so über den Patienten erlangt werden, ermöglichen eine noch bessere und effizientere Behandlung.
Könnten grundlegende Veränderungen auch auf dem Behandlungsstuhl stattfinden?
Durchaus. Ich denke zum Beispiel an die Implantologie und daran, was hier mit Robotik alles möglich werden könnte. In einigen Jahren wird der Roboter diese Arbeit vielleicht besser und genauer machen als ein Arzt oder eine Ärztin.
Wird der Zahnarzt durch künstliche Intelligenz ersetzt?
Dies glaube ich nicht, denn Technologie soll den Arzt insbesondere unterstützen. Die menschliche Komponente ist hier immer noch wichtig. Vielleicht wird zukünftig jener Arzt ersetzt werden, der keine Technologie einsetzt. Man sieht den erfolgreichen Einsatz einer «digitalen Pille» bereits in anderen Fachbereichen, etwa in der Kinderpsychologie. Die jungen Patienten sprechen nicht mit dem Psychologen oder der Psychologin, sondern täglich mit einem Mobile-Coach, einem Avatar, den sie selbst kreieren dürfen. Und dies mit grossem therapeutischem Erfolg. Kinder fühlen sich damit wohler, als wenn sie jede Woche einer erwachsenen fremden Person gegenüberzusitzen. Dieses Projekt zeigt, wie die Kombination von Menschen und Technologie erfolgsversprechend sein kann.
Birgt die fortschreitende Technologisierung auch Risiken?
Bei der hohen Geschwindigkeit, mit der die Entwicklung vorangeht, kann es passieren, dass wichtige Bedürfnisse von unterschiedlichen Zielgruppen wie gewissen Patientengruppen oder auch Ärztinnen und Ärzten nicht berücksichtigt werden.
Kann es sich heute ein Zahnarzt, eine Zahnärztin noch leisten, sich der Digitalisierung zu verweigern?
Die Frage ist immer: Wie gross sind der Druck und die Dringlichkeit, sich mit diesen neuen Themen auseinanderzusetzen. Wenn die Dringlichkeit nicht da ist und die Patienten zufrieden sind, funktioniert es auch so. Man muss sich aber immer bewusst sein: Auch Patientenbedürfnisse verändern sich. Längerfristig ist es nicht empfehlenswert, die Digitalisierung zu ignorieren. Für Innovation ist sie unumgänglich.
Wie kann eine Zahnarztpraxis innovativ sein?
Das ist insbesondere ein Haltungs- und Kulturthema. Es benötigt eine grundsätzliche Offenheit für Veränderung und neue Ideen. Dabei muss – wie immer – die Chefin oder der Chef als Vorbild dienen, Neugierde erzeugen und das Team damit anstecken. Gleichzeitig benötigt es auch eine gewisse Resilienz und Durchhaltewillen, denn sehr viele Ideen und Innovationen scheitern auch. Wichtig ist eine Praxiskultur, in der alle Mitarbeitenden Ideen einbringen dürfen und man den Mut aufbringt, einfach loszulegen und zu testen. Innovative Ideen müssen nicht immer gleich zu neuen Geschäftsmodellen führen. Sie können bereits im Kleinen Grosses bewirken.
Haben Sie ein Zukunftsszenario für das Gesundheitswesen?
Der aktuelle Trend geht stark in Richtung datengetriebener Medizin und der Kombination von Hard- und Softwarelösungen. Mit Hilfsmitteln wie dem Smartphone oder der Apple Watch können zahlreiche Daten erhoben werden, etwa zu Schlafrhythmus, Herzrhythmus oder körperlicher Tätigkeit. Die datengetriebene Prävention ermöglicht es, dass die Menschen länger gesund bleiben beziehungsweise gar nicht erst krank werden. Die langfristige Entwicklung mit dem exponentiellen Fortschritt der Technologie wirft jedoch auch Fragen auf: Führen solche Möglichkeiten zur Selbstoptimierung? Kann man irgendwann aufgrund solcher Messdaten bestimmen, wie lange man leben möchte? Solche Themen führen schnell zu ethischen Fragestellungen.Brauchen wir längerfristig einen Code-of-Conduct auf globaler Ebene darüber, wie wir Technologie einsetzen wollen und bis zu welchem Grad wir die Möglichkeiten ausreizen? Die nächsten Jahre werden daher die herausforderndsten Zeiten für das Gesundheitswesen. Und mit Sicherheit auch die spannendsten.